»Bannmeilen« von Anne Weber
Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar markiert durch den Périphérique, den zu überschreiten Anne Webers Erzählerin bisher kaum in den Sinn gekommen ist. Denn was gibt es dort, in den verruchten Banlieues, außer einem Geflecht aus Schienen, Schnellstraßen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte und Baustellen und Millionen von Menschen eingeklemmt sind? Außer der so notorischen Not, Gewalt und Armut? Als ihr alter Freund Thierry ihr jedoch vorschlägt, ihn für einen Film durch die Vorstädte des Départments Seine-Saint-Denis zu begleiten, die vor den Olympischen Spielen 2024 einem tiefgreifenden Wandel unterzogen werden, muss sie sich eingestehen, dass sie für die nächste Nähe jahrzehntelang blind gewesen ist. Da sind zum Beispiel der von Schrotthalden umgebene muslimische Friedhof von Bobigny, auf dem ein algerischer Olympiasieger der 1920er-Jahre begraben liegt; die beiden kreisrunden Sozialwohnungsbauten von Noisy-le-Grand, die einander wie gigantische Camemberts gegenüberstehen; und tausend andere von Kolonialismus und Leid, von Hoffnung und Fortschritt erzählende Orte. Und auch Thierry selbst entpuppt sich mit der Zeit als Teil dieser widersprüchlichen, ihrem Blick bislang verborgenen Welt.
Mit leisem Witz und großer Beobachtungsgabe öffnet sich Anne Weber in Bannmeilen dem Unvertrauten und Anderen mitten unter uns und entwirft damit nicht nur das Bild einer komplexen Freundschaft, sondern zugleich die Geschichte einer vielschichtigen Gesellschaft in der so noch nicht gesehenen Vorstadt der Liebenden.
Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt als auch umgekehrt. Auch ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Für Annette, ein Heldinnenepos erhielt sie den Deutschen Buchpreis. 2024 bekam sie außerdem den Annette- von-Droste-Hülshoff-Preis für ihr Gesamtwerk verliehen.
Die Veranstaltung ist Teil des Kulturprogramms zum Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 2024 (LWL-Literaturpreis) und findet in Kooperation mit Burg Hülshoff – Center for Literature statt.
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) verleiht seinen traditionellen Literaturpreis seit 1953 und der Bezug zur Namensgeberin des Preises, der Literatin Annette-von-Droste-Hülshoff, ist ein Alleinstellungsmerkmal der Auszeichnung. Der mit 35.000 Euro dotierte Preis wird im fünfjährigen Turnus an eine Persönlichkeit verliehen, die sich durch besonders herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literatur hervorgetan hat. Zu den bisherigen Preisträger:innen zählen beispielsweise Ernst Meister und Cornelia Funke. In diesem Jahr hat eine unabhängige Fachjury der Autorin und literarischen Übersetzerin Anne Weber den Preis zuerkannt und die feierliche Preisvergabe hat im Mai 2024 in Kooperation mit dem Center for Literature auf Burg Hülshoff stattgefunden.
Foto: © Sarah von der Heide